Premiere von „Bernarda Albas Haus“
Eine Inszenierung, die unter die Haut geht
Ausgangspunkt der Handlung ist der Tod von Bernardas zweitem Ehemann. Mit der geschickt platzierten, coronatauglichen Massenszene der Totenmesse per Videoeinspielung eröffnet der Regisseur des Stückes Thomas Nauwartat-Schultze seine Inszenierung über „Frauen ohne Mann“. Bilder und Worte der dörflichen Trauergemeinde sprechen sehr deutlich die Situation in Bernardas Haus an, in dem es alles andere als harmonisch und friedlich zugeht. Hautnah erleben wir das erschütternde Aufbegehren der heranwachsenden Töchter gegen eine starre, streng katholisch geprägte spanische Gesellschaft. Herrisch verlangt Bernarda – überragend verkörpert von Sabine Valentin – nach der Totenmesse ihres verstorbenen Ehemannes eine bedingungslose, traditionelle achtjährige Trauer. Gewaltsam zwingt sie so ihre Töchter in die totale Isolation zur Außenwelt und tabuisiert rigoros Meinungen und Gefühle. Was zählt sind Gehorsam, Unterordnung und Anpassung an Tradition und Erwartungen der Nachbarn. Es ist geradezu erschütternd mitzuerleben, wie jede Einzelne mit ihren unterdrückten Begierden, ihrem Schmerz und ihren Ängsten umgeht. Bernardas starke Präsenz, die sie über das ganze Stück ausstrahlt, nimmt man jederzeit ab, dass sie zu allem bereit ist, die Tradition ihrer Vorfahren fortzusetzen. Damit ist der Grundstein für den dramatischen Konflikt gelegt. Lediglich der altgedienten Magd La Poncia – von Wera Wörner als gefühlsbetonter, mütterlicher und lebensfroher Gegenpol zu Bernarda dargestellt – ist der Kontakt zum Klatsch und Tratsch der Dorfgemeinschaft noch möglich. Sie führt in die Verhältnisse ein und kennt die Probleme und Verfehlungen der Töchter in diesem „gottverdammten Haus“, denn sie hat sie großgezogen. Immer wieder versucht sie zu vermitteln. Doch dem vertrauten Umgangston untereinander gebietet Bernarda sofort Einhalt, wenn sie ihr widerspricht. Aufgrund ihrer Herkunft und Position habe sie zu arbeiten und den Mund zu halten! Unnachgiebig beharrt sie auf ihrer Meinung. Als der Mob der Straße fordert, die Tochter der Nachbarin zu steinigen, weil sie ein außereheliches Kind zur Welt gebracht hat, stimmen alle bis auf Adela lautstark zu. In schockierender Weise erlebt man Bernardas kaltherziges Verhalten gegenüber ihrer als verrückt erklärten Mutter Maria Josefa – eindrucksvoll gespielt von Veronika Ludwig. Sie wird aufgrund ihres Andersseins als Schande empfunden und weggesperrt. Aber es gelingt ihr, aus dem Kerker auszubrechen. Auf Anweisung Bernardas wird sie wie ein wildes Tier von den Mägden eingefangen, gefesselt und zurückgeschleppt. An der imaginären Figur von Pepe El Romano, dem attraktivsten Mann im Dorf, entzündet sich der schwelende Konflikt der Verlockungen des Lebens. Obwohl er in aller Munde ist, tritt er nie auf. Er ist der Auslöser für die Handlungen der Frauen. Unerbittlich nimmt das Schicksal seinen Lauf. Angustias, die älteste Tochter – überzeugend dargestellt von Claudia Bendig – ist nach dem Tode ihres Stiefvaters von der Trauerzeit ausgenommen. Sie erwartet ihr Erbe, um dann durch Heirat das Haus zu verlassen. Bernarda willigt trotz Trauerzeit in die Hochzeit mit Pepe El Romano ein. Doch es kommt zum Eklat. Pepe, der nur ihre Mitgift im Blick hat, flirtet zwar mit ihr, trifft sich jedoch heimlich mit der jüngsten Tochter Adela – emotional gespielt von Agnetha Rauch. Bei ihr zeigt sich kontrastreich das Wechselspiel ihrer Gefühle. Mit ihrer Vitalität steht sie in klarem Kontrast zu ihren Schwestern, vor allem zur bedeutend älteren Angustias. Jedoch erkennt sie in ihrem Liebeshunger nicht, dass Pepe sie nur benutzt. Ihre Gefühle für ihn kann sie in ihrer jugendlichen Widerborstigkeit nicht im Zaum halten. Weil sie letztendlich an der übermächtigen Mutter und dem ungeschriebenen Gesetz der Familienehre scheitert, endet ihre Sehnsucht tödlich. Sehr deutlich zeigen sich die Gegensätze bei Martirio – kämpferisch und aggressiv gespielt von Santina Rudolph. Obwohl sie sich immer stärker zu Adelas Rivalin entwickelt, bleibt bis zum Schluss sichtbar, dass auch sie leidet. Der Zweifel Angustias an der Aufrichtigkeit Pepes und das heimliche Treffen Adelas mit Pepe, veranlassen sie, ihre Schwester bei der Mutter zu denunzieren. Eifersüchtig fühlt sie sich in die Rolle einer Märtyrerin gedrängt. Ihr aufgestauter blinder Hass gegen die tyrannische Mutter entlädt sich in einem Gewaltausbruch, dessen Realität erschaudert. Die große und gütige Magdalena und die jüngere Amelia – liebevoll dargestellt von Silvia Schönfelder und Nina Sumser – unterscheiden sich deutlich von ihren Schwestern. Sie spielen eine untergeordnete Rolle und sind dementsprechend positioniert. Obwohl auch sie in Pepe verliebt sind, haben sie sich in ihrer Hoffnungslosigkeit mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie gehen ganz in den ihnen zugeteilten Aufgaben auf: zu Hause bleiben, an der Aussteuer nähen und ihrer Mutter widerspruchslos gehorchen. Die übrigen Darstellerinnen, die Mägde und die dörfliche Trauergemeinde unterstreichen in ihren Rollen die Dramatik. Mit der Einzigen nicht im Hause lebenden entfernten Verwandten Prudencia – lebensnah dargestellt von Sandra Sebastian – wird noch einmal die Zerbrechlichkeit der starren Tradition und der sich ankündigende Ausbruch aus der Unterdrückung in Form eines unbändigen Hengstes deutlich gemacht. Zum Schluss versucht Bernarda mit brachialer Gewalt, Moral und Familienehre wiederherzustellen. Blindwütig schießt sie auf Pepe, ohne ihn jedoch zu treffen. Adela glaubt, dass ihr Geliebter tot sei und erhängt sich in ihrem Zimmer. Bernarda trauert einen kurzen Moment, fällt aber sofort wieder in ihre Rolle als herrschsüchtiges Familienoberhaupt zurück. Gefühllos und wider besseres Wissen verbannt sie den Makel des Selbstmordes mit den Worten: „Wir werden alle tief in ein Meer von Trauer tauchen. Adela, die jüngste Tochter von Bernarda Alba, ist als Jungfrau gestorben. Habt ihr mich verstanden? …Schweigen habe ich gesagt!“ Mauern und Türen sucht man vergeblich. Sie werden auch nicht benötigt, denn sie sind ins Innere, in die Seelen der Darstellerinnen gewandert. Unter die Haut gehende emotionale Ausbrüche, die nach einer Nähe verlangen, sind coronabedingt auf Distanz gehalten, aber in ihrem aggressiven Ausdruck dadurch noch stärker in ihrer Wirkung. Die menschliche Natur in all ihren Facetten hat Thomas Nauwartat-Schultze exzellent in lebendige Charaktere mit punktgenauer Körperchoreografie umgesetzt. Mit langanhaltendem Beifall bedankte sich das Premierenpublikum am Schluss der Aufführung beim gesamten Ensemble für diese virtuose und hochkarätige Glanzleistung.
Gartenstadt-Journal, November 2020, WE