Gute und böse Seelen liegen im Streit

Gartenstadt – Chor, Orchester und Solisten zeigen “Das jüngste Gericht” in der ausverkauften Gnadenkirche

Als Thomas Nauwartat-Schultze vor 13 Jahren an der Freilichtbühne den Chor ART-im-TAKT gründete, herrschte Begeisterung. Doch niemand ahnte, dass dieser vielbegabte Schauspieler, Regisseur, Choreograf und Chorleiter die hohen Ansprüche, die er an sich selber stellt, auch seinen Mitwirkenden abverlangt. Was seine Sängerinnen und Sänger fast spielerisch bei Musical- und Popaufführungen leisten, wird bei klassischen und geistlichen Werken zu einer großen Herausforderung.

Kontrastreiches Werk

“Wacht! Euch zum Streit gefasset macht” mit diesem mahnenden, fast kriegerischenAufruf beginnt ein oratorienartiges Mammutwerk,das dem frühbarocken Meister Dietrich Buxtehude (1637-1707) zugeschrieben wird, und vom niederländischen Dirigenten, Organisten und Hochschullehrer Ton Koopmann (geboren 1944) für fehlende Stimmen rekonstruiert wurde. Es ist ein kontrastreiches vielsagendes Werk, dessen Text sich aus Bibelzitaten, Chorälen und freier Dichtung zusammensetzt, und die Todsünden der Menschheit in den Wettstreit schickt. Der Herr im Himmel sieht dem Treiben zu und fordert Rechtfertigung. Das verlieh dem Werk auch die Bezeichnung “Das jüngste Gericht”.

Zweifellos sprach der in der Hansestadt Lübeck wirkende Buxtehude mit diesem Werk die damaligen wohlhabenden Kaufmannsleute und Bürger der Stadt an, mahnte sie vor Geiz, Leichtfertigkeit und Hochmut, vor Völlerei, Trunksucht und Unkeuschheit – ein mutiges Unterfangen, denn gerade die reichen Zünfte und Patrizierfamilien waren es, die diese Konzerte aus der traditionellen Reihe der Lübecker Abendmusiken (der Eintritt war frei) sponserten.

Neben dem unverblümten Streitgespräch, das sich die Gesangssolisten liefern, sticht vor allem die beredte musikalische Umsetzung heraus. Schon die Eingangssonate -wunderbar gespielt vom Heidelberger Kantatenorchester – machte die beiden gegensätzlichen Stimmungen deutlich: schweres, langsames Schreiten ruft auf zum Bedenken, während der Wechsel zur bewegt verspielten Heiterkeit zum Lebensgenuss reizt. Und dann treten die Sopran-Solisten (Amelie Petrich, Leba Safran, Sabine Valentin) auf als Geiz, Leichtfertigkeit, als Hoffahrt (hier eher verstanden als Hochmut), wetteifern miteinander, stellen ihre guten oder bösen Seelen in Frage und werden von der göttlichen Stimme zur Raison gerufen: “Du Narr, Du Narr! Heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und was wird sein, was du bereitet hast”, singt ein wunderbarer kraftvoll majestätischer Bass (Marcel Brunner). Demgegenüber meldet sich ein sanfter Tenor (Jan Herrmann), der den Schrecken vor dem Jenseits mildert, aber dennoch vom pessimistischen Altus (Daniel Eger) überstimmt wird.

Göttliche Stimme

Bezeichnend ist in dieser Komposition nicht nur die beredte Ausschmückung der Empfindungen (Lachen, Weinen, Seufzen), sondern auch der galante Einsatz der Instrumente. Die Orgel der meisterhaften Ryoko Aoyagi, die sich stets dezent im Hintergrund hielt, trat in den bedeutenden Rezitativen der göttlichen Stimme hervor, während der tiefe besänftigende Klang von Cello (Julia Nilsen Savage) und Laute (Johannes Vogt) die Wechselgespräche der wetteifernden Todsünden begleitete. Bei aller akzentuierter Mahnung und allem Aufschrei, der in dem Werk steckt, brachte der wunderschöne Choral nach Phillipp Nicolais Lied “Wie schön leuchtet der Morgenstern voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn” Licht und Hoffnung in die Apokalypse.

Das Publikum in der voll besetzten Gartenstädter Gnadenkirche dankte dem Chor ART-im-TAKT, dem Heidelberger Kantatenorchester und den absolut überzeugenden Gesangssolisten schließlich mit langanhaltendem jubelndem Applaus.

Mannheimer Morgen, 24.11.2017, Christina Altmann