Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Sehenswerte Aufführung der Freilichtbühne Mannheim

Der angesehene Arzt Dr. Henry Jekyll forscht nach einer bewusstseinsverändernden Droge, die das Böse vom Guten im Menschen trennen kann. „Man soll das Böse akzeptieren und nicht unterdrücken!“, ist er überzeugt, was zu hitzigen Diskussionen und letztendlichem Zerwürfnis mit seinem Freund und Arzt Dr. Hastie Lanyon führt. Im Selbstversuch scheint sein Experiment gelungen, aus dem beliebten Arzt und gesellschaftlich anerkannten Wohltäter wird zeitweise das menschenverachtende Monstrum Edward Hyde, der das London im Jahre 1888 in Angst und Schrecken versetzt. Ahnungslose Spaziergängerinnen werden aus entfesselter Wut niedergeschlagen bzw. getötet, einer Prostituierten schüttet er grundlos Säure ins Gesicht, Kinder schlägt er rücksichtlos und schreckt auch nicht vor dem sinnlosen Mord an dem Abgeordneten Sir Denver Carrew zurück. Im weiteren Verlauf bleibt nicht einmal seine eigene Verlobte verschont. Sie landet nach seinem Überfall auf sie im Irrenhaus. Den überlebenden Opfern prägt sich nur eines ein: der abgrundtief böse Blick ihres Peinigers. Mit der Zeit gelingt es Jekyll kaum noch, das Böse zu kontrollieren. Bereits im Schlaf und ohne die Einnahme des Elixiers mutiert Jekyll in Hyde, verändert sich charakterlich zusehends. Seine engsten Freunde John G. Utterson und Dr. Hastie Lanyon will er nicht mehr sehen, er bricht den Kontakt mit seiner Verlobten endgültig ab und zieht sich immer mehr zurück. Tief besorgt spionieren Utterson und Lanyon Jekyll nach. Die Spur führt zu Hyde, den sie schließlich aus einem kleinen, baufälligen Haus herauskommen sehen. Jekyll erkennt indes, dass er weder von der Droge loskommt, noch den Dämon in sich besiegen kann. Im Gegenteil, er sieht ihn an Übermacht gewinnen und bittet Lanyon verzweifelt um Hilfe. Dieser soll ihm ein Gegengift applizieren und ihn damit retten. Lanyon schafft dies zwar im Kampf mit dem sich in Hyde verwandelten Jekyll, wird aber dadurch wahnsinnig und stirbt. Fassungslos stellt Jekyll die begrenzte Wirkungsdauer des Antidots fest, die grauenhafte Metamorphose setzt vor den Augen der entsetzten Bürger mitten im Hydepark ein. Jekyll sieht keinen Ausweg mehr, als sich selbst ein Ende zu bereiten. Thomas Nauwartat-Schulze gelang eine meisterhafte Inszenierung nach der weltberühmten Novelle des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson. Dramaturgische Akzente wie das Spiel der Hauptdarsteller vor phasenweise „eingefrorenem“ Background sorgen für Plastizität und lassen den Zuschauer näher rankommen an die Seele Jekylls. Das Bühnenvolk kommt mit Verdichtungssequenzen professionell rüber, Szenen wie der Auftritt der Frauenrechtlerinnen oder eine Wohltätigkeitsveranstaltung lassen in die Gesellschaft Londons der damaligen Epoche schauen. Nauwartat-Schultze zeichnet ein einprägsames Bild des historischen Aufbruchs hin zur Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen und Unterdrückung. Mit dem detailverliebten Bühnenbild wird der Zuschauer in die (teilweise mobile) Kulisse des Londons ins Jahr 1888 versetzt: vom gemütlichen Wohnzimmer bis zum unheimlichen Versuchslabor, dem gruseligen Haus Hydes, dem abendlichen Flair (markant unterstrichen durch die Beleuchtung in Gestalt brennender Mülltonnen) und einer äußerst gelungenen Perspektive in Londons Gassen bei Nacht an der Treppenposition – großer Chapeau für das Bühnenbauteam. Atmosphärisch verstärkt die Geräuschkulisse den Zeitsprung in das ausschleichende 19. Jahrhundert. So ruft Big Ben höchstpersönlich die Zuschauer zu ihren Plätzen, auch fehlt die im Chor gesungene Nationalhymne „God save the Queen“ nicht. Mit feinem Gespür setzt der Regisseur das ganze Stück über passende Musikelemente als Verstärker ein. Stevensons beabsichtigte Gesellschaftskritik an der erzwungenen Verdrängung nicht gesellschaftskonformer Wünsche und Bedürfnisse bzw. Konventionen des Viktorianischen Zeitalters (1837-1901) und der vorherrschenden bürgerlichen Moralauffassungen, seine Warnung vor den Konsequenzen einer empathielosen, sadistischen Menschheit sind klar erkennbar und überzeugend dargestellt. Philosophische Betrachtungsweisen kommen nicht zu kurz und spiegeln sich beispielsweise im Streitgespräch Jekylls mit Lanyons wider. Das 50-köpfige Ensemble beweist schauspielerische Höchstleistungen. Voran Marco Hullmann in der Hauptrolle besticht durch nuancenreiches Spiel, setzt die stufenweise Veränderung von Jekyll zu Hyde und die Unkontrollierbarkeit des Bösen grandios um. Seine Freunde, der besorgte Anwalt John G. Utterson (Christian Lange), der sich von Jekyll abwendende Dr. Hastie Lanyon (Bernd Schönfelder) und die bezaubernde Verlobte Charlotte Lloyd (Simone Eisen) sind eindrucksvoll dargestellt. Brillant auch kleinere Rollen wie die kesse Prostituierte Mary (Santina Rudolph) oder die pfiffigen Zeitungsjungen Will (Bastian Bauer) und Tom (Jan Köhler). Durch die ambitionierten Akteure sämtlicher Neben- und Statistenrollen wirkt das Stück lebendig und authentisch. Jede kleinste Handlung ist gut durchdacht und dargestellt. Perfektion in Maske und Kostümbildnerei runden das Geschehen ab. Theaterbegeisterte haben die Gelegenheit, sich an folgenden Abenden, jeweils 20 Uhr zu gruseln: 7., 8., 14., 15., 20., 22., 29. Juli, 3., 4. und 5. August.

Käfertaler Zeitung, Juli 2017, CoKo